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Danke, wir haben Glück gehabt!

Wenn Bildung von Glück und Willkür abhängt

Heute morgen habe ich unsere Tochter an ihrem 2. Schultag zur Schule gebracht. Ich verabschiede sie an der Schulhofmauer. Es ist für mich immer noch ein neues Gefühl. Ich schaue ihr zugleich melancholisch und stolz hinterher und freue mich darüber, daß sie sich noch einmal umdreht und mir lachend zuwinkt – an der Hand ihrer Integrationsassistentin.

Unsere Tochter kam mit Down-Syndrom zur Welt. Und sie geht jetzt in die 1. Klasse der Grundschule um die Ecke. Nein, nicht zur „Förderschule“, oder „Sonderschule“, oder „Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt“. Sondern auf eine „Regelschule“. Das ist für mich selbstverständlich, denn: sie ist ein Mensch. Sie lernt von anderen gleichaltrigen Menschen. Und sie ist ein soziales Wesen, das ein Teil der Gemeinschaft sein möchte.

Diese Verabschiedung am Schulhof im Jahr 2020 ist in Deutschland, über 10 Jahre nach Zeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, nicht selbstverständlich. Wir haben Glück gehabt:

  • daß wir eine Tagesmutter gefunden haben, die sich auf die neue Erfahrung „Besonderes Kind“ (ich finde: besonders tolles Kind) eingelassen hat.
  • daß genau rechtzeitig ein inklusiver Kindergarten in der Nähe öffnete und unsere Tochter dort irgendwo im Spektrum der unterschiedlichsten Fähigkeiten aller Kinder einen wunderbaren Platz fand.
  • daß wir eine herausragende Schulleiterin kennengelernt haben, die wenig Erfahrung mit Inklusion hat, aber von der Richtigkeit des Ansatzes überzeugt ist – die zusammen mit der Amtsärztin und dem Kindergarten eine Rückstellung von der Schule ermöglichte, so daß unsere Tochter etwas mehr Zeit bekam, um auch wirklich schulreif zu sein.
  • daß diese Schulleiterin unserer Tochter einen Platz an ihrer Schule gegeben hat.
  • daß unser Antrag für eine Integrationsassistentin bewilligt wurde.
  • daß wir rechtzeitig eine engagierte Integrationsassistentin fanden.

Für uns: lief alles easy. Und wir wissen, daß wir damit Riesenglück gehabt haben. Denn für andere Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom (und anderen sogenannten Behinderungen) ist nichts davon selbstverständlich. In Deutschland, über 10 Jahre nach Zeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Es kann doch nicht sein, dass wir „Glück“ haben, daß unsere Tochter mit Down-Syndrom an einer Regelschule inklusiv beschult wird. Weil um uns herum die Infrastruktur gut ist und dankbarerweise viele Eltern vor uns schon Wege beschritten und Türen geöffnet haben.

Während es in anderen Städten und Dörfern in Deutschland auch heute noch völlig undenkbar erscheint, daß ein Kind mit Behinderung an eine Regelschule geht („Haben Sie denn noch nicht bei der Förderschule XY gefragt?“ – „Nein, dafür haben wir doch gar keine Ressourcen.“ – „Nein, Ihr Kind ist doch an einer besonderen Schule viel besser aufgehoben.“). Ein Auszug aus der Behindertenrechtskonvention zum Thema Bildung: „(…) stellen die Vertragsstaaten sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“

🧐Wenn es von der Gunst und Freundlichkeit einzelner Menschen in entsprechenden Institutionen abhängt, ob das Kind ein Jahr zurückgestellt werden darf (ich nenne das: „Willkür“).

🧐Wenn es einzig und allein von der (im Bestfall: den) agierenden Person(en) an einer Schule abhängt, ob das „Inklusionskind“ aufgenommen wird oder nicht.

🧐Wenn Inklusion vom Einkommen der Eltern abhängt, die sich eine Privatschule leisten können müssen, da alle staatlichen Schulen am Ort ein Kind mit Förderbedarf ablehnen.

🧐Wenn Regelschulen ernsthaft guten Inklusionsunterricht anbieten möchten, aber alle Sonderpädagogen in einem Förderschulsystem aufgesogen werden, das inkonsequenterweise parallel weiter betrieben und in einigen Bundesländern sogar noch weiter ausgebaut wird.

🧐Wenn Eltern sich Schulbegleiter*innen selber suchen (und teilweise: selber bezahlen) müssen, da die verantwortlichen Gemeinden und Städte zu wenig tun, um eine ausreichende Anzahl Kräfte mit einer Minimalqualifikation bereitzustellen.

🧐etc.

Und gleichzeitig:

⚡️Wir bekommen mit jeder PISA-Studie erneut bestätigt, daß in keinem Land der Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und sozialer Herkunft so groß ist wie in Deutschland.

⚡️Wir beklagen Fachkräftemangel.

⚡️Wir führen an, daß für bessere Diversität im Berufsleben zu wenig diverse Menschen gut ausgebildet sind.

⚡️Wir sehen, daß der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft leidet.

⚡️Wir stellen fest, daß menschliche Verbindungen über kontroverse Themen immer schwerer möglich sind.

Ich denke, daß der Grund darin in einem Superskill unseres Landes liegt: dem Sortieren. Wir sortieren Menschen schon mit Eintritt in den Kindergarten in Schubladen. Wir sortieren weiter mit dem Übergang in die Grundschulen und noch intensiver danach. Eine der Kernkompetenzen Deutschlands ist es, zu sortieren. Und das machen wir auch mit Menschen. Es braucht oft nicht viel, daraus ein „Aussortieren“ werden zu lassen.

Meine Antwort darauf ist Inklusion. Eine primär stärkenorientierte Sichtweise mit Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Individuelles und kooperatives Lernen. Eine Einbindung der Schule in ihr gesellschaftliches Umfeld, im Innen und Außen. Menschen, die Schulen verlassen mit Lust auf und Offenheit für das Leben. By the way: natürlich machen bessere Ressourcen Inklusion noch besser. Es ist jedoch ein Missverständnis, die Umsetzung auf diesen nie eintretenden Tag X zu schieben. Die wichtigste Ressource ist jedoch immer die Haltung der Lehrenden. Let’s start today, because: we need change!

(und natürlich weiß ich, daß Inklusion nicht einfach alle Probleme löst – aber 75% finde ich schon eine gute Quote😉 Und ja, es ist ein Langläufer.)

❤️Ich wünsche mir für meine Tochter, daß genug Menschen ihr unendliches Potential sehen, so daß sie die Schule mit dem Gefühl verläßt, daß sie das arbeiten und leben kann, was sie möchte. Und daß sie Freunde findet, im besten Fall für’s Leben. 👫 Und das wünsche ich allen Kindern in allen Schulen unseres Landes.❤️

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Falls Du mehr Hintergründe zum Thema Inklusion lesen möchtest, findest Du hier einige gut lesbare Ressourcen:

👩‍🏫Kurzbewertung Stand Inklusion: https://www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/hintergrund/zahlen-daten-und-fakten/studie-inklusion-schule.html?gclid=EAIaIQobChMIoP-EtPai6wIVA7d3Ch3oDAxHEAAYASAAEgJKVPD_BwE

👩‍🏫Bewertung Stand Inklusion: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/inklusive-bildung-zwischen-licht-und-schatten

👩‍🏫Behindertenrechtskonvention einfach: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/un-konvention.html

Mareike Fuisz – Speaking about Change.